Erschienen am: 16.06.2022

Autor: Julius Apfelbacher

Das Volk, dessen Freiheit tödlich endet

Stellt euch vor, ihr geht montagmorgens in die Schule, z.B. eben in unser schönes Gymnasium. Ihr geht ins Klassenzimmer und trefft auf eure Freunde. Ihr unterhaltet euch über das Wochenende, welches ihr sehr genossen habt, und freut euch auf die kommende Woche, in der ausnahmsweise weder eine Ex noch eine Schulaufgabe ansteht. Euer sehr entspannter Lehrer betritt das Klassenzimmer und ihr verbringt alle zusammen einen guten Start in die Woche. Auf einmal eine Durchsage: Amokalarm. Fenster schließen! Bleibt im Klassenzimmer und seid still! Dir und deinen Klassenkameraden läuft ein kalter Schauer den Rücken herunter. Es ist so still, dass ihr euer Blut fließen hören könnt. Ganz zu schweigen von eurem Herzen, das so schnell pocht, dass es förmlich platzen könnte. In weiter Ferne hört ihr ein schweres Poltern und jede Sekunde, die die Uhr an der Wand mit ihrem Ticken einläutet, kommt es näher und näher und näher, bis es vor der Tür verstummt. Langsam geht die Klinke runter, ihr seht einen Schüler. Ganz normal, nur mit einem Unterschied. Er ist bewaffnet. Den Rest erspare ich euch lieber.

 

Meine Gedanken zeichnen hier wohl ein viel zu grauenhaftes Bild. Aber es ist Realität. In einem Land, in dem Freiheit der höchste Wert ist, leider aber zu oft über den Wert eines Menschenlebens gestellt wird.



Was ich hier anspreche, ist das “Second Amendment Right” der USA. Zum historischen Verständnis: Am 15. Dezember 1791 wird in den USA die “Bill of Rights” verabschiedet. Diese ergänzt die amerikanische Verfassung um zehn Artikel. In diesen Zusatzartikeln (Amendment Rights) werden gewisse Grundrechte der US-Bürger festgelegt. In den First Amendment Rigths wird jedem Bürger der Vereinigten Staaten die Meinungs-, Versammlungs-, Religions- und Pressefreiheit sowie das Recht auf Petitionen zugesichert. Das Second Amendment besagt: “The right to keep and bear arms”. Das Recht auf das Behalten und Tragen von Waffen. Mit Eintritt der Volljährigkeit darf jeder in einen Waffen-Shop gehen, sich dort sein Geschoss zulegen und es dann benutzen. Es dient zur Verteidigung gegen jemanden, der DICH mit einer Waffe bedroht. Aber was ist, wenn man sie zum Angriff verwendet? Ist das Recht auf legalen Waffenbesitz nicht eher gefundenes Fressen für einen Geisteskranken?

Ja, natürlich ist es das. Und davon gibt es genug auf der Welt. Auch in Deutschland. Am 9. Oktober 2019 versuchte ein Rechtsextremer mit einer Waffe in eine Synagoge in Halle an der Saale einzudringen, um dort Juden, welche Jom Kippur - den höchsten Feiertag ihrer Religion - zelibrierten, zu töten. Zwei Menschen, die eigentlich nicht das Ziel waren, starben. Am 19. Februar 2020 folgte ein Anschlag in Hanau, bei dem ein Rechtsextremer neun Menschen mit Migrationshintergrund erschoss. Er begang anschließend Selbstmord, nachdem er zusätzlich noch seine Mutter getötet hatte. 13. Mai 2022: Ein versuchter Angriff eines 16-Jährigen aus Essen auf seine eigene Schule wird vereitelt. Na? Fällt euch was auf? Erstens: Das war vor nur ein bisschen mehr als einem Monat. Also ein ziemlich aktueller Fall. Zweitens würde das Szenario, das sich bei Erfolg des Anschlags ergeben hätte, einige Parallelen zu meiner brutalen Fiktion in der Einleitung aufweisen.

Die Waffendebatte in den USA erhält gerade wieder ganz viel Feuer.  Am 24. Mai 2022 erschoss ein 18-Jähriger aus Texas 19 Schüler und zwei Lehrerinnen einer Grundschule. Zuvor schoss er noch seine Großmutter an. Wenige Tage später folgte ein Treffen der Waffenlobby NRA (National Rifle Association). Ein prominenter Gast: Ex-Präsident Trump, der sich nach dem Amoklauf für mehr Waffen an Schulen einsetzt. Sein Grund: “Die Existenz des Bösen sei der allerbeste Grund, gesetzestreue Bürger zu bewaffnen”. Der amtierende Präsident Biden dagegen hat eine wichtige Frage: “Wann in Gottes Namen werden wir uns der Waffenlobby entgegensetzen?”. Währenddessen sieht der texanische Gouverneur Greg Abott keinen Grund zur Änderung der Waffengesetze. Das ist ungefähr so, wie wenn Herr Söder die völlig veraltete 10H-Regelung selbst nach lautem Ruf aus der Bevölkerung und der Politik sowie der Dringlichkeit des Ausbaus des Windradsystems immer noch nicht abschaffen würde. Moment mal … Nun ja, das ist natürlich nicht im Vergleich zu setzen mit dem Waffenproblemen in den USA…

Herr Biden hat dennoch absolut Recht. Nur, wann bekommt er es auch? Wenn jeder endlich einsieht, dass Menschen innerhalb von Sekunden sterben können, wenn ein Gestörter eine Waffe in die Hand bekommt?  Wenn jeder erkennt, dass es keinen Ort mehr gibt, an dem Menschen vor einem Waffenanschlag sicher sind? Nicht mal an Schulen? In den USA sind Schulschießereien mittlerweile Alltag. Und das ist komplett krank. Nach den Anschlägen am 11. September 2001 wurden die Sicherheitsmaßnahmen in Flugzeugen so streng, dass man nicht mal eine Nagelfeile mitnehmen darf. Andererseits gibt man jedem 18-Jährigen, der übrigens nicht mal das Recht auf Alkoholkonsum hat, da dieses erst ab 21 gewährt wird, eine Waffe in die Hand.

Es ist ganz klar. Über dem Blatt Papier, auf dem das Second Amendment Right steht, liegt eine fette Staubschicht. Mit jedem Menschen, der sich dieses Recht dann doch wieder für seine terroristischen Taten zunutze macht, wird diese Staubschicht wieder weggewischt und schon liest man wieder diesen Text: “The right to keep and bear arms”. Ist das wirklich noch ein gesundes Verständnis von Freiheit? Ein über 200 Jahre alter Artikel, der Waffenbesitz erlaubt? Glaubt man wirklich, dass sich die Gesellschaft nicht verändert hat? Sieht man die Gefahr hinter dieser schrecklichen Erlaubnis nicht? Nun ja, hier muss ich trotzdem noch kurz was ergänzen, weil ich euch etwas vorenthalten habe. Ich habe das Second Amendment nur auszugsweise zitiert, bis ich darauf hingewiesen wurde, dass das nicht der ganze Artikel ist.

 

"A well regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms, shall not be infringed."

„Eine gut regulierte Miliz, die notwendig ist für die Sicherheit eines freien Staates, das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, darf nicht verletzt werden.“

 

Nun wird’s schwierig. Je nach Kommasetzung kann der Satz wieder unterschiedliches bedeuten. Hat wirklich jeder das Recht auf Waffenbesitz? Oder dient das nur zum Aufstellen einer Miliz zur Verteidigung? Oder sichert dieser Artikel nur das Recht auf Waffenbesitz für Soldaten?

Es ist extrem kompliziert, weil jeder historische Dokumente für sich selbst auslegen kann und für seine eigenen Zwecke nutzen kann, v.a. wenn sie nur auszugsweise zitiert werden. Das birgt dann letztlich das Risiko der Schießereien in den USA. In New York wurden als Reaktion auf einen rassistischen Angriff die Waffengesetze verschärft. Mindestalter für den Besitz von Waffen ab 21, schärfere Vorab-Überprüfungen von Käufer von Sturmgewehren, weitere Möglichkeiten zur Beschlagnahmung von Waffen von gefährdenden oder suizidgefährdeten Personen. Präsident Biden will das nun auf die gesamte USA übertragen, jedoch braucht es – wie es in einer Demokratie so üblich ist – eine Mehrheit im Parlament, und diese ist nicht garantiert.

Ich würde wirklich gerne mal in dieses Land reisen, habe aber ungelogen Angst, dass ich an jeder Ecke Opfer eines Anschlags werden könnte. Vielleicht bleibe ich ja auch verschont… weil ich nicht schwarz bin… Ah, da wären wir ja schon beim nächsten Problem…